Wie wir zu einem aufmerksameren und selbstbewussteren Leben gelangen.
Das Leben ist eine Reise voller Erfahrungen, Begegnungen und Erkenntnisse. Täglich strömen Eindrücke auf uns ein: Gedanken, Meinungen, Überzeugungen. Und auch in uns ist nicht immer „ruhige See“: Gefühle können uns hin- und herbewegen und sind manchmal nicht greifbar.
Manches von dem, was auf uns einströmt oder in uns ist, fühlt sich stimmig an, anderes löst Zweifel aus, und wieder anderes lässt sich auf den ersten Blick nicht einordnen. Was also führt uns zu mehr Klarheit?
Jedes Jahr geben wir gemeinsam mit anderen christlichen Traditionen einem Satz aus der Bibel mehr Raum zur Entfaltung. Das heurige Jahresmotto lautet: „Prüft alles und das Gute behaltet“ (1. Thess 5,21). Das ist eine wunderbare Einladung, mit offenem Geist und klarem Herzen durchs Leben zu gehen. In manchen Situationen ist dieser Satz eine Aufforderung, für das Gute einzustehen und nicht davon abzuweichen. „Prüft alles, das Gute behaltet“ beschreibt eine Haltung der Achtsamkeit, die weder alles unreflektiert annimmt, noch vorschnell verwirft.
Diese Weisheit zieht sich durch viele spirituelle Traditionen: Im Buddhismus wird von der „klaren Sicht“ gesprochen – einer Unterscheidungskraft, die Täuschung von Wahrheit trennt; die christliche Mystik betont das innere Lauschen, das über bloße Worte hinausführt; im Zen gibt es das Bild der leeren Teeschale: Nur wer seine Schale nicht bereits gefüllt hat, kann Neues aufnehmen, doch nicht alles muss bleiben.
Prüfen oder Reflektieren bedeutet nicht, in Misstrauen oder Skepsis zu verharren, sondern sich mit wacher Präsenz dem Leben zu nähern. Es geht darum, Eindrücke bewusst wahrzunehmen und sich zu fragen: Fördert das, was gerade ist, Frieden, Menschlichkeit und Mitgefühl? Führt es mich in eine tiefere Wahrheit oder verstärkt es nur oberflächliche Unruhe? Klingt es in mir nach und entfaltet es mit der Zeit eine tiefere, liebevolle Bedeutung? Im gemeinschaftlichen Zusammensein lässt sich diese Haltung üben, in manchen Aspekten auch in der persönlichen Meditation: Gedanken ziehen vorüber, manche wirken heilsam, andere bringen Unruhe. Wenn wir nicht sofort auf sie reagieren, sondern sie nur beobachten, zeigt sich, welche eine tiefe Wahrheit enthalten. Nicht jeder Eindruck muss sofort bewertet oder übernommen werden. Manches entfaltet sich erst, wenn wir ihm Raum geben.
Persönliche Reflexion, ohne Austausch und „Praxistest“ in der konkreten Begegnung mit anderen und anders denkenden, anders erfahrenden Menschen läuft Gefahr, sich abzuschotten und letztlich nicht mehr wachsen zu können. Sie wird zu einem „Schmoren im eigenen Saft“. Gemeinschaftliches Tun ohne persönliche Reflexion läuft Gefahr, sich Mächten hinzugeben, die ein aufmerksames, weltoffenes und selbstbewusstes Leben behindern. Erst wenn beides zusammenkommt – persönliche Reflexion und gemeinschaftlicher Austausch – entfaltet sich die volle Kraft des Wortes: „Prüft alles und das Gute behaltet.“
Das Gute zu behalten bedeutet nicht, daran festzuhalten oder es besitzen zu wollen. Es ist vielmehr ein Erkennen dessen, was wirklich trägt. Oft sind es keine großen Offenbarungen, sondern leise Einsichten, Begegnungen oder Erfahrungen, die Licht hinterlassen. Manchmal offenbart sich das, was trägt, erst im stillen Ritual, wenn der Geist nicht mehr sucht, sondern einfach da ist. Dieser Prozess der Prüfung und Bewahrung ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein ständiger Weg.
Mit der Zeit entwickelt sich ein feines Gespür dafür, was nährt und was belastet. Wenn wir diesen Weg gehen, wird unser Leben nicht nur klarer, sondern auch ruhiger. Wir erkennen, dass wir nicht jedem Gedanken folgen müssen, nicht jeder Meinung zustimmen und nicht jede Erfahrung festhalten müssen. In dieser Freiheit kann das Wesentliche von selbst hervortreten: Gott, die Liebe.
Ihr dankbarer Pfr. Hannes Dämon