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Weltfrauentag: Schluss mit patriachalen Strukturen!

Über Kirche, Sex, Geschlechtlichkeit und das Verhältnis von Frau und Mann

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Zunächst: Für den heutigen Tag leitet mich eine Frage. Worum geht es beim christlichen Glauben? Was ist sozusagen das „Kerngeschäft“? Ich werde auf diese Frage später noch zurückkommen.

Natürlich habe auch ich die „10 Gebote“ in meiner Schulzeit gelernt. Gekonnt habe ich sie nie wirklich. Als junger römisch-katholischer Priester saß ich dann mit einem Schummelzettel im Beichtstuhl. Wenn jemand gekommen ist und beichtete: „Ich habe dreimal gegen das vierte Gebot verstoßen“ dann habe ich heimlich nachgeschaut, worum es denn ungefähr gehen könnte... Nur beim sechsten Gebot war ich mir sicher – ist ja leicht zu merken: Da geht’s um Sex. „Du sollst nicht begehren deiner nächsten Frau“.

Heute unterrichte ich die 10 Gebote als altkatholischer Pfarrer und Religionslehrer nicht mehr. Aus Überzeugung. Denn gerade beim sechsten Gebot zeigt sich die ganze Tragweite und Tragik: Die Macht des Patriachats, die verkürzte Sichtweise von Begehren, Liebe, Treue und Geschlechtlichkeit.

Morgen feiern wir den Weltfrauentag und alles zusammen: Das sechste Gebot, der Weltfrauentag und dass wir als Menschen unserer Zeit hier gemeinsam Gottesdienst feiern – das alles zusammen ergibt eine für mich explosive Mischung. Ich möchte also heute mit Euch und Ihnen über das Verhältnis von Mann und Frau, über Geschlechtlichkeit nachdenken.

Dass fast die ganze Geschichte vom Patriachat beherrscht ist, ist trauriges Allgemeinwissen. Frauen wurden als das schwächere Geschlecht angesehen, systematisch ausgeschlossen von den Produktionsprozessen und Machtpositionen, verfolgt (wie in Zeiten der Hexenjagd) und verdächtigt, zum Sündenbock für den Sündenfall gemacht, zur Sünde schlechthin stigmatisiert. Furchtbar, was da innerhalb und außerhalb christlicher Kirchen geschehen ist. Auch diese patriachale Zeit ist noch nicht vorbei: Gender Pay Gap (die ungleiche Bezahlung von Frau und Mann bei gleicher Tätigkeit) und Gewalt gegen Frauen zeugen davon, dass wir in einer besseren, aber nicht in einer heilen Welt leben.

Ein besonderer Aspekt der Unterdrückung der Frau, auch in ihrer Libido, ihrer Sexualität wird bei Sigmund Freud sichtbar. Freud konzipiert in seinen Traumdeutungen und in Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie die psychischen Dynamiken aufbauend auf einer sexuellen Grunddynamik: Dem Penisneid. Das 4- oder 5-jährige Mädchen sieht beim gleichaltrigen Jungen: „Ui, der hat da was!“ und der Junge sieht beim Mädchen: „Da fehlt etwas!“ So beschreibt Freud dann den berühmten Ödipuskomplex, das Unbewusste als Verdrängung, Kastrationsangst. Ohne diese Theorien zu vertiefen (und die heutige Psychoanalyse ist auch schon viel weiter) ist hier ein besonderer Aspekt wichtig, der sich tief in das gesellschaftliche Bewusstsein eingetragen hat: Die Frau ist ein Mangelwesen. Frauen fehlt etwas. Freud hat nicht gesagt: „Hier gibt es (gleichwertige) Unterschiede bei den Genitalien!“ sondern hat Frau-Sein explizit darauf bezogen, kein Mann zu sein. Die Frau ist defizitär: Nicht nur, wie bisher in der Physiologie (weniger Muskelkraft zum Beispiel), sondern auch psychisch und als sexuelles Wesen. Das sexuelle Begehren (was bei Freud als Trieb bezeichnet wird) rückt in den Vordergrund.

Das kennen wir auch gut aus den kirchlichen Diskussionen, die in unserer altkatholischen Kirche vor 30 Jahren geführt wurde und in anderen christlichen Kirchen heute noch geführt werden: Warum können Frauen keine Priesterinnen sein? Ihnen fehlt etwas – so war jahrzehntelang die Argumentation – und damit war immer wieder auch „das da unten“ gemeint“ – schließlich war Jesus ja ein Mann. Gott sei Dank haben wir dieses Denken in unserer altkatholischen Kirche überwunden – Frauen sind in allem Männern gleich gestellt.

Oder bei den Diskussionen zu homosexuellen Beziehungen oder der Frage nach Treue in der Ehe. Gerade bei letzterem müsste es doch deutlich sein, dass Treue sich nicht allein auf sexuelle Treue reduzieren lässt. Die Gleichstellung der Frau und Simone de Beauvoir Die Reaktionen auf Freud und jahrhundertelanger Unterdrückung der Frauen sind zaghaft. Bis Simone de Beauvoirs Schriften die Gesellschaft nach dem 2. Weltkrieg aufrütteln. Die Philosophin und Geliebte von Jean-Paul Satre, dem „Begründer“ des Existentialismus, zeigt in Das andere Geschlecht nicht nur die Unterdrückung von Frauen auf, sondern auch, wie diese immer in Abhängigkeit von „eigentlichen Menschen“, dem Mann, als die anderen wahrgenommen worden sind. So wurden Frauen zum Objekt gemacht, das vom Mann aus betrachtet wird. Sei es in der Geschichte, in der Mystifizierung, Erhöhung der Frau (hier können wir an übertriebene Formen der Marienverehrung denken), in der Überbetonung oder Abwertung der weiblichen Lust, bei Freud oder in den (damaligen) Machtstrukturen. Auch dieses Denken ist heute noch nicht vorbei. De Beauvoir fordert die Gleichstellung, die gleichen Rechte für Frauen ein – und dass diese nicht bloß aus den Augen der Männer betrachtet werden, sondern in allen ihren Begehren, den sexuellen ebenso wie den Begehren nach Sinn, Anerkennung, Politik, Bildung usw. als eigenständig wahr-genommen werden. Mit diesen „revolutionären Ideen“ (und den detaillierten Beschreibungen über die weibliche Libido, das wiederum die damalige Zeit widerspiegelt) ist ihr Buch gleich auf dem Index der verbotenen Bücher der römisch-katholischen gelandet – dort in guter Gesellschaft etwa mit Immanuel Kants Kritik der praktischen Vernunft oder den philsophischen Schriften von René Descartes. Dieser Index verbotener Bücher wurde übrigens 1967 von der römisch-katholischen Kirche „stillgelegt“ – aber nie abgeschafft oder als Unrecht verurteilt.

Im Sinne de Beauvoirs ist Jesus ein wahrer Feminist. Liest man die Begegnungsgeschichten, die von Jesus mit Frauen überliefert sind, so findet sich kein Fünkchen Vorurteil gegenüber Frauen, kein männliches Macho-Gehabe und auch kein „Ihr-müsst-euch-für-das-Reich-Gottes-hinten-anstellen“. Jesus interessiert allein der Mensch, ob Mann, Frau, Kind – und sein „Herz“. Heute können wir „Herz“ gut mit allem beschreiben, was dieser Mensch begehrt und wohin er strebt. Denken wir nur an die Geschichte, als Jesus bei angesehenen Männern zu Gast ist und eine Frau, von der Gesellschaft gedemütigt und ausgestoßen, diese Männerrunde durchbricht. Die Männer erstarren und sind gespannt, was Jesus nun tun wird. Eine Frau – eine Prostituierte – wagt sich in das Haus der religiösen Führer? Was Jesus sagt, ist hoch-psychologisch. Er fragt seine Gastgeber: „Seht ihr diese Frau?“ Also: Habt ihr diese Frau nicht nur abwertend „nicht einmal ignoriert“, sondern seht ihr diese Frau? Erkennt ihr ihr Bestreben, wonach sie Sehnsucht hat? Nehmt ihr sie ernst? Die ganze Scheinheiligkeit deckt Jesus in wenigen Sätzen auf: Die Lüsternheit ebenso wie die Verleugnung, das Machtstreben ebenso wie das scheinbare Wissen, was vor Gott zählt. Und so gelesen ist das sechste Gebot geradezu ein Skandal: „Du sollst nicht begehren deiner nächsten Frau“. Die Frau wird zum Objekt gemacht, gleichgestellt mit Eseln und dem Haus, dem Besitz (alles im 7. Gebot). Ein Paradebeispiel für patriachales Machtstreben und patriachale Unterdrückungsmuster ebenso wie für fehlgeleitetes Begehren.

Heute müssen wir aber noch weiter gehen und tiefer denken. Welche Bedeutung hat das biologische Geschlecht? Und welche Bedeutung messen wir es denn bei, jemanden als „Frau“ oder „Mann“ zu betrachten? Dient es einer Einordnung? Zuordnung? Wem „bringt das etwas“? Gibt es überhaupt „die Frau“ oder „den Mann? Judith Butlers Gender Trouble (deutsch: Das Unbehagen der Geschlechter) ist sehr lesenswert, auch wenn es keine leichte Lektüre ist. Auch nicht mehr ganz jung – 30 Jahre alt – aber weiter voraus gedacht als wir heute sind. Die amerikanische Philosophin und Sprachwissenschaftlerin zeigt auf, dass wir stets Stereotypen im Kopf haben: „Die Frau“, der „Mann“. Daran sind gewisse Erwartungen geknüpft: Eine Frau hat sich so zu verhalten, ein Mann ist so… Doch keine Frau, kein Mann kann typisch Frau oder typisch Mann sein – man kann immer nur man selbst sein. Mit allen Schattierungen, dem je eigenen Begehren. „Männer können immer“ – welcher Mann fühlt sich da wohl und ernstgenommen? „Frauen sind sanftmütig“ – welche Frau fühlt sich da wohl und ernstgenommen?

Im christlichen Kontext müssen wir fragen, wie wichtig es tatsächlich ist, welches biologische Geschlecht jemand hat – oder welche sexuellen Begehren: Ob heterosexuell oder homosexuell oder beides... Ist das das Kerngeschäft des Christlichen, des Heils, der Botschaft vom Reich Gottes? Ich glaube, wenn wir die Frage nach dem Geschlechtlichen und dem sexuellen Begehren dies in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit stellen, dann gehen wir wesentlich am Menschen vorbei. Tatsächlich ist es so, dass es nicht darauf ankommt, wen oder was wir begehren – ob sexuell, ob Anerkennung, ob Geborgenheit, ob eine bestimmte Position in der Gesellschaft, ob mehr Freizeit oder was auch immer – viel mehr geht es darum, wohin uns dieses Begehren führt, wenn wir es aktiv anstreben.

Also nicht im Begehren an sich liegt Heil oder Unheil, sondern die Frage nach Heil oder Unheil entscheidet sich darin, wohin uns dieses Begehren führt. „Wohin treibt es uns?“ als einzelne mit unserem Herzen, aber auch insgesamt als Gesellschaft? Nochmals sei betont, dass Jesus dies klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hat: „Nicht, was in dich hineinkommt, macht dich rein / unrein, sondern allein, was aus dir herauskommt!“ (frei interpretiert). In unserer Kirche gab es immer wieder die Diskussionen, ob Frauen die besseren Seelsorgerinnen sind. Das ist meines Erachtens ein falsch verstandener Feminismus. Er arbeitet genauso mit Stereotypen und die Frage an sich hat eine Portion „Gewalt“ in sich: Denn bei der Seelsorge, für Priester und Priesterinnen, kommt es nicht auf das biologische Geschlecht an, auch nicht auf das sexuelle Begehren, sondern wonach diese Person strebt. Wohin zieht das Herz dieses Menschen? Bereit zur Liebe, bereit zum Dienst, Begehren nach Gerechtigkeit, Begehren mit Gott den Weg zu gehen, Sehnsucht nach Gebet?

Einen Seelsorger oder eine Seelsorgerin nur auf das natürliche Geschlecht zu reduzieren oder auf eine gewisse sexuelle Orientierung – das nenne ich mit Butler „Gewalt vor der Gewalt“. Dieses Beispiel sollte nur zeigen, dass wir noch viel mehr über „Menschen vor und mit Gott“ nachdenken müssen. Dass wir uns den Kernbereichen des Heils zuwenden – und das ist immer der gesamte Mensch. Das sexuelle Begehren ist nur eines von vielen Begehren, die wir Menschen in uns tragen. Diese Begehren und ihre Verwirklichung sind insgesamt als der Weg des Heils oder Unheils zu sehen. Und alles, was Menschen auf ihre sexuelle Identität (sei es das natürliche Geschlecht (sex) oder das, wie sie sich selbst sehen und von anderen gesehen werden (gender)) reduziert, ist weit hinter dem, was Jesus uns schon vor 2000 Jahren vorgelebt hat – ohne die Schriften von Simone de Beauvoir oder Judith Butler zu kennen. Jesus hatte das Ganze im Blick.

Mehr noch sollten wir Christinnen und Christen lauter und deutlicher gegen jede Art von Reduktion des Menschen, der insgesamt als nichts weniger als ein Wunder gesehen werden kann, auftreten. In diesem Sinne kann ich heute den Frauen unter uns sagen: Wir stehen solidarisch an eurer Seite, wenn es darum geht, für gleichen Lohn, gleiche Chancen und bessere Bedingungen für Mütter und Väter, für Familien, für ältere Menschen einzutreten. Die 10 Gebote und das Kerngeschäft der Kirche Im besten Fall kann ich die zehn Gebote lesen als den untauglichen Versuch, das Begehren, die Herzenstrebungen in Richtung Gott zu lenken. In der schlechtesten Lesevariante ist es nichts anderes als die Zementierung patriachaler Machtansprüche. Jedenfalls sind die zehn Gebot für Menschen heute als ethische Grundlage ungeeignet. Da halten wir uns besser an ein Wort, das – wenn man so will – ganz feministisch ist: „Liebe Gott und liebe deine Nächsten wie dich selbst!“ So einfach ist das mit dem Mensch-Sein, Frau-Sein, Mann-Sein, Queer-Sein. Wir haben viel erreicht, wenn es keinen Welt-FRAUEN-Tag mehr gibt. Wir sind dem Reich Gottes näher, wenn wir gemeinsam, so wie wir sind und wonach wir streben, einen Tag der Kinder Gottes feiern dürfen.

Pfarrer Mag. Hannes Dämon, Weltfrauentag 2021