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Mit Spiritualität zu innerem Frieden

Wie uns Spiritualität helfen kann, inneren Frieden zu finden und erfüllende Begegnungen zu leben.

Thomas (den Namen habe ich geändert) schildert mir, wie sehr ihn sein Zuspätkommen zu unserem Gesprächstermin ärgert: Er war rechtzeitig bei der Bushaltestelle, aber der Bus hatte fast zwanzig Minuten Verspätung. Das Schneechaos dürfte es gewesen sein. Oder vielleicht ein Unfall oder ein Stau oder beides. Als ich ihn frage, worum es heute in unserem Gespräch gehen sollte, meint Thomas, er habe noch keine Zeit gehabt, seine Gedanken zu sortieren und brauche daher noch ein paar Minuten Zeit zum Runterkommen.

Das ist doch eigenartig: Zwanzig Minuten „rumstehen“ und keine Zeit, sich zu sortieren? Vielleicht hat das Unerwartete die Gedanken von Thomas mitsamt seinen Plänen vollkommen in Beschlag genommen. Leider jage derzeit in seiner Arbeit eine Hiobsbotschaft die andere. Er habe daher noch schnell Mails auf dem Handy beantwortet, meint Thomas erklärend.

So wie Thomas hier von einer schwierigen Situation in die andere stolpert, so geht es derzeit vielen Menschen. Diese Situationen haben leider etwas gemeinsam: Sie sind belastend. Zuerst war es Corona, dann der Ukraine-Krieg und immer die Auseinandersetzungen mit Fragen der Menschheit und des Umweltschutzes, die anhaltende Gewalt im Nahen Osten, globale Bedrohungen, der Terminkalender ... oder schnell noch Weihnachtsgeschenke kaufen oder vielleicht besser bestellen?

„Schicke diese Gedanken auf Urlaub!“ Diesen Rat einer ganz lieben Freundin vor vielen Jahren habe ich mir sehr zu Herzen genommen. Aber darf man angesichts der unfassbaren Nachrichten von Gewalt, die täglich aus aller Welt auf uns einprasseln überhaupt an Urlaub denken? Ist nicht jedes Entfliehen der Gedanken in eine „heilere“ Welt eine Flucht, eine Ent-Solidarisierung mit den Leidenden?

Die Kerzen flackern. Alle Mitfeiernden schweigen. Im hinteren Teil der Kirche läuft ein Kleinkind zur Mama und zurück in die Kinderecke. Ich sitze vorne im Altarraum und denke an die Gefühle und Gedanken, die den Mitfeiernden zu Beginn dieses Gottesdienstes wohl durch den Kopf und - mehr noch - durchs Herz gehen. Ein paar Atemzüge noch absolute Ruhe. Würden wir eine Uhr im Kirchenraum an der Wand hängen haben: Alle würden das Ticken Sekunde für Sekunde hören. Dann stehe ich auf und spreche ein freies Gebet. Ich versuche, jede stille Freude und jedes stille Fragen in ein einfaches, allgemeines Gebet zu fassen.

Dieses unser „Ritual“ zu Beginn des Gottesdienstes hat überhaupt nichts mit Schuld oder Besinnung zur Umkehr zu tun. Es ist auch kein demütiges Schweigen oder eine verordnete Bußfeier - mögen wir uns auch noch so unschuldig empfinden. Es wird kein Urteil gesprochen.

Diese Stille ist wie ein positives Warten an der Bushaltestelle: die Chance, den vielen Gedanken, für die im Alltag zu wenig Platz ist, nachzugehen. Mit all den Gefühlen, die diese Gedanken mit sich bringen und mit all den Menschen, die mit diesen Gedanken verbunden sind.

Dass wir diesen Gedanken, wenngleich nicht ausgesprochen, in Gemeinschaft in Stille nachgehen, gibt einen realistischen Blick in die Welt wieder: Es gibt nicht nur Gewalt, es gibt auch gelebte Nächstenliebe. Es gibt nicht nur Herausforderungen, die ohnmächtig machen, es gibt auch geglückte und glücklich machende Tätigkeiten. Es gibt Mitläufer:innen und jene, die eigenständig Verantwortung übernehmen; es gibt Trauer und es gibt Freude; es gibt glückliche Beziehungen und es gibt Brüche; es gibt rastlose Tage bei den einen und Tage, die nicht enden wollen, bei den Einsamen.

Welche Bedeutung geben wir diesem Geschehen in und um uns herum? Was hat es mit uns selbst zu tun? Was macht es mit uns, unseren Träumen, unserer Sehnsucht, unserem Leben? Um dem nachzugehen und das, was uns wirklich im Herzen bewegt, erspüren zu können, braucht es Mut, tatsächlich in die Stille zu gehen und die Gedanken zu ordnen. Dass wir keine Gelegenheit dazu hätten, wie wir uns vielleicht manchmal einreden, ist eher unwahrscheinlich. Denn - so zeigen Studien - ein Gutteil unseres Alltags ist von Warten bestimmt: Wir warten auf einen Termin, warten auf den Bus, warten auf den Beginn der Serie im Fernsehen, warten auf den Besuch, warten auf eine bessere Zukunft, warten auf den Rückruf ...

Die eigentliche Flucht besteht weniger darin, schlechte Gedanken auf Urlaub zu schicken, als darin, nicht bewusst wahrzunehmen, was in unserem Herzen los ist: nur oberflächlich und ohne Bezug zu uns Glück und Unglück, Verletzungen und Liebe und Beziehungen in der je eigenen Gestalt wahrzunehmen. Erst das, was im Herzen erwogen worden ist, führt uns zu dem, was Leben ist. Für mich ist dies ein tiefer spiritueller Prozess. Denn sowohl Glück als auch Unglück übersteigt die Grenze der eigenen, individuellen Welt des einzelnen Menschen: Das Glück will geteilt, das Unglück will jedenfalls mitgeteilt werden. Und alles führt in jenes Vertrauen, dass Leben geschenkt ist: Jede Sekunde, die durch das Ticken der Uhr an der Wand markiert wird, ist eine geschenkte Zeit, die wir haben. Keine dieser Sekunden ist selbstverständlich.

Wenn es im ersten Korintherbrief heißt, dass der Leib, also das Anfassbare, Sichtbare, ein Tempel des Heiligen Geistes ist, dann bedeutet das wohl, dass alles, was in uns ist, von der umfassenden Liebe, die wir Gott nennen, durchwirkt ist. Dass alles getragen ist: das Bekannte und das Unbekannte. Das Gegenwärtige und das Zukünftige. Jede Sekunde unseres Lebens mit all dem, was diese Sekunde in sich birgt. Dieses Vertrauen des Geborgen-Seins kann zu einem neuen „inneren Frieden“ führen. Und teilen wir mit anderen, was uns im Herzen bewegt, dann werden Beziehungen lebendiger, offener, vertrauter, erfüllender. Dann können gemeinsam Wege begangen werden, von denen wir nicht einmal wussten, dass es sie gibt.

So sehe ich dann auch die Entwicklung unserer christlichen Gemeinschaft in der Heilandskirche und insgesamt der Altkatholischen Kirche in Österreich als einen Prozess, der ebenso nach innen wie nach außen geht. Ich bin sehr dankbar, dass es in unserer Gemeinschaft viele Orte spiritueller Erfahrungen des einfachen Seins gibt; dass immer wieder Sekunden der Rückbindung auf die größere Liebe, die uns immer umgibt, möglich sind; dass sich Kinder und Jugendlichen ebenso wie Erwachsene auf Herzens-Abwägungen einlassen. Denn selten ist das Leben eindeutig.

Eine genaue Betrachtung des Bildes kann bereits eine heilsame Erfahrung des Da-Seins und So-Seins sein. Advent - das ist eher allgemein bekannt - bedeutet eigentlich „warten“ oder auch „erwarten“. Dass dieses Warten eine erfüllte Zeit wird, das wünsche ich Ihnen von Herzen.